Mit Blues, Charme und viel Lebensfreude

Konzertkritik: Seasick Steve im Komplex
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Bäckstage.ch / © Patrick Holenstein

Die Bühne ist rudimentär bestückt. Einige Verstärker, ein Schlagzeug und mitten drin ein Stuhl, dessen Farbe schon langsam abblättert und auf dem ein Kissen liegt. Seasick Steve ist ein Naturbursche, der nicht viel braucht, und schliesslich ist der Herr bereits 72 Jahr alt und hat sich einen Stuhl redlich verdient. Wer aber gedacht hat, der gute Steve würde sich auf seinen Stuhl setzen und gemütlich durch den Abend bluesen, vermutet falsch. Steve zeigt sich nämlich sehr vital und springt auf der Bühne wie der junge Frühling. Stampft zum eigenen Blues und schäkert mit den Besuchern. Es ist herrlich ihm dabei zuzusehen. 

 

Steve wirkt mit seiner Latzhose und dem weissen T-Shirt wie man sich den typischen Besitzer eine Ranch oder Farm im amerikanischen mittleren Westen so vorstellt. Einzig die Tattoos am Arm verraten seine Vergangenheit, entlarven den Seebären Steve, der zur See fuhr und merkte, dass er dafür nicht gemacht worden ist. Ihm wurde schlecht, und genau das hat ihm seinen Namen eingebracht. 

 

Immer wieder grinst der Musiker, schaut verstohlen zu seinem Mitmusiker am Schlagzeug und freut sich über den Applaus. Charme besitzt er obendrein auch noch. So holt er sich nach einer Handvoll Songs eine junge Frau auf die Bühne und widmet ihr einen «Lovesong». Sie ist begeistert und Steve nutzt die Chance und holt sich zum Abschied ein Küsschen. Danach legt er erst so richtig los und fidelt auf seinen selbstgebauten Gitarren wie wenn der Blues direkt durch seine Adern fließen würde.

 

 

Immer wieder erzählt er Geschichten, die man ihm zu gerne glaubt, aber doch nicht ganz sicher ist, ob der bärtige Musiker nicht doch Seemannsgarn spinnt. Eine Rolle spielt das nicht, denn Seasick Steve hat sein Publikum fest im Griff. Nicht ohne Grund. Der Mann hat das Spielen auf den Landstraßen perfektioniert und dementsprechend variantenreich ist sein Blues.

 

Manches Intro wirkt ziellos und improvisiert, wenn die beiden Musiker ihre Instrumente bearbeiten, aber aus jedem vermeintlichen Chaos entsteht ein mitreissender Blues, mal elegant und zart und mal ruppig und voller Strassencharme. Steve lebt für den Blues oder beherrscht der Blues ihn? Man weiß es nicht so genau, aber egal, wer wen im Griff hat, das Konzert von Seasick Steve macht viel Spaß, weil der 72-jährige die perfekte Mischung aus Spaß und ernster Live-Show findet.

 

Mit einem infernalischen Outro verabschiedet sich Steve und setzt einen euphorischer Abschluss. Doch selbst nach der Zugabe gibt das Publikum keine Ruhe und Steve kommt erneut zurück und fragt: «Wollt ihr noch nicht heim?» Dann spielt er den für ihn besten Bluessong, der je geschrieben wurde. «I’m So lonesome I Could Cry» von Hank Williams. An diesen Abend ist Steve alles andere als allein, sondern hat viele neue Freunde gefunden.

 

Patrick Holenstein / So, 03. Nov 2013